In der Praxis
Off-Label-Use – Ein Spagat zwischen Recht und Praxis
Autor:
Prof. Dr. Thomas Ratajczak
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht, Fachanwalt für Sozialrecht
Kanzlei RATAJCZAK & PARTNER Rechtsanwälte
In Kooperation mit der Hochschule Neu-Ulm
Lesedauer: 2 min

Unter Off-Label-Use versteht man die Anwendung von Arzneimitteln außerhalb ihres Zulassungsbereichs und von Medizinprodukten außerhalb der vom Hersteller vorgegebenen Zweckbestimmung. Das Gesundheitswesen kommt ohne diese Option nicht aus. Aber eigentlich ist sie ein Widerspruch.
Die der Arzneimittelzulassung vorausgehenden Prüfungen sollen ebenso wie die Prüfung von neuen Medizinprodukten durch die Benannten Stellen dafür sorgen, dass sie den intendierten Nutzen haben und weder Anwender noch Patient durch die Produkte zu Schaden kommen. Und schon gar nicht zu Schaden kommen sollen Kinder und Frauen, die schwanger sind oder es noch werden können. Und für genau diese beiden Patientengruppen gibt es den meisten Bedarf an Off-Label-Use. Die Gründe dafür sind bekannt, werden des Öfteren von der Politik oder der EU-Kommission beklagt. Aber es ist nun mal ausgesprochen schwierig, für diese Gruppen klinische Studien durchzuführen.
Aus der Sicht der Arzthaftungsrechtsprechung ist der Off-Label-Use ein Problem der Aufklärung über Behandlungsalternativen und über die Risiken der Behandlung. Er ist ebenso wie die Anwendung sonstiger neuer Behandlungsmethoden zulässig, wenn er unter sorgfältiger Abwägung der Vor- und Nachteile des nicht zugelassenen Arzneimittels im Vergleich zu den zugelassenen Substanzen vertretbar ist und medizinisch-sachlich begründet erscheint (OLG Stuttgart, 26.07.2011 – 1 U 163/10). Bei der Behandlung eines Kindes ist der "Off-Label-Use" eines Schmerzmedikaments (hier: Pregabalin), das nur für Erwachsene zugelassen ist, zulässig, wenn in den einschlägigen medizinischen Fachkreisen Konsens über dessen voraussichtlichen Nutzen besteht (OLG Dresden, 15.05.2018 – 4 U 248/16). Über das Risiko schwerwiegender, insbesondere auch unbekannter Nebenwirkungen ist auch beim Off-Label-Use grundsätzlich aufzuklären, was gerade bei noch nicht lange erprobtem Off-Label-Use ein besonderes Problem darstellt.
Aus der Sicht der Sozialgerichtsbarkeit geht es meist um die Frage der Erstattungsfähigkeit der Kosten durch die Krankenkassen.
Aus der Sicht der Krankenkassen ist der Off-Label-Use vielfach ein probates Mittel, um Kosten zu sparen. Man denke nur – pars pro toto – an den Einsatz von Bevacizumab (off-label) anstelle von Ranibizumab (zugelassen) zur Behandlung der altersbedingten Makuladegeneration (AMD) mittels intravitrealer operativer Medikamentenapplikation (IVOM).
An der IVOM lässt sich sogar ein besonderer Systemwiderspruch aufzeigen. Eigentlich kommt Off-Label-Use nur in Frage, wenn es kein (wirksames) zugelassenes Medikament gibt, nicht aber, wenn das zugelassene Medikament den Kostenträgern zu teuer ist. Das Bundessozialgericht (BSG) hatte deshalb am 02.09.2014 entschieden, dass Kassenpatienten jedenfalls auf der Behandlung mit dem zugelassenen Ranibizumab bestehen können (B 1 KR 11/13 R), wohingegen der Europäische Gerichtshof mit dem Off-Label-Use von Bevacizumab zur Behandlung der AMD bei der Kostenübernahme durch Krankenkassen 2018 keine Probleme erkennen wollte (EuGH, 21.11.2018 – C-29/17).
Die Arzneimittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses regelt den Off-Label-Use in § 30 und der Anlage VI. Bevacizumab ist danach aktuell nur zur palliativen Behandlung des fortgeschrittenen nicht-kleinzelligen Bronchialkarzinoms zugelassen, wird aber u.a. off-label bei Glioblastom eingesetzt, ohne dass bisher klar ist, ob die Krankenkassen das bezahlen müssen (unter bestimmten Voraussetzungen bejahend z.B. LSG Sachsen, 05.06.2018 – L 9 KR 223/17 ER, LSG Nordrhein-Westfalen, 04.08.2021 – L 5 KR 556/21 B ER; verneinend LSG Bayern, 26.08.2020 – L 4 KR 325/20 ER). Trotz zweier ablehnender Entscheidungen des BSG zu dieser Frage vom 13.12.2016 – B 1 KR 10/16 R – und vom 11.09.2018 – B 1 KR 36/17 ist das Thema unverändert aktuell.
Diese Ambivalenz wäre vielleicht unter Kuriosa einzuordnen, wenn man damit nicht den Ärzten in ihren Praxen und in den Kliniken die Verantwortung und Haftung übertragen würde.
Der Widerspruch, dass einerseits alles versucht werden soll, was dem Patienten Hilfe und Nutzen verspricht, andererseits aber das Risiko möglichst gering gehalten werden soll, ist im Falle des Off-Label-Use ein Widerspruch im System. Wenn man den Off-Label-Use will – und COVID-19 hat einmal mehr gelehrt, wie sehr man ihn braucht – dann sind die Konsequenzen von Erkenntnisdefiziten wegen fehlender Zulassungsstudien nicht durch die Haftung des Arztes, sondern auf gesamtgesellschaftlicher Ebene zu kompensieren.
Hinweis: Diese Ausführungen geben einen Überblick über mögliche relevante Aspekte zum Off-Label-Use. Diese sind keinesfalls abschließend und behandeln die aufgeworfenen Rechtsfragen nicht abschließend. Eine gesonderte Rechtsberatung im Einzelfall ist daher stets erforderlich.