Überaktive Blase
Blasenprobleme im Alter: Wie behandeln?
Multimorbidität und Gebrechlichkeit erschweren häufig die Behandlung von Blasenproblemen (z. B. überaktive Blase) bei geriatrischen Patientinnen und Patienten.1 Welche Therapie ist hier die richtige? Die Empfehlungen verschiedener Fachgesellschaften im Überblick.
Lesedauer: 4 min

Achillesferse Multimorbidität
Mehr als die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner von Seniorenheimen leidet unter Inkontinenzproblemen.2 Bedingt durch die verschobene Alterspyramide werden die absoluten Zahlen noch weiter steigen, da die Prävalenz der überaktiven Blase und von Inkontinenz mit dem Alter zunimmt.1,3 Die Behandlung dieser Beschwerden bei geriatrischen Patientinnen und Patienten wird durch die oft bestehende Multimorbidität und Gebrechlichkeit erschwert.1 So kann insbesondere die medikamentöse Therapie schnell zur Herausforderung werden.
Anticholinergika im Alter: Hoher Nutzen = hohes Risiko?
Unter den medikamentösen Therapien der überaktiven Blase gelten Anticholinergika als Firstline-Option.1,4 Ihnen werden jedoch verschiedene Nebenwirkungen nachgesagt, die vor allem bei älteren und geschwächten Menschen zum Tragen kommen. Hinsichtlich des konkreten Nebenwirkungsprofils bei Älteren ist die Studienlage jedoch eher dünn, da die Ergebnisse zumeist von jüngeren Probandinnen und Probanden (< 65 Jahre) stammen.1,4
Die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie empfiehlt bei Älteren – insbesondere bei einer bestehenden Multimorbidität und Multimedikation – das potenzielle Nebenwirkungsprofil der Anticholinergika zu beachten, z. B.:4
- Glaukomauslösung
- Obstipation
- Restharnbildung
- Beeinträchtigung der Kognition bis hin zu Delir
- Mundtrockenheit
Wie also vorgehen?
Das Therapieregime für den Einsatz von Anticholinergika wird in der aktuellen europäischen Guideline für nicht-neurogene Beschwerden des unteren Harntrakts (lower urinary tract symptoms, LUTS) bei Frauen und in der deutschen S2e-Leitlinie für Harninkontinenz bei geriatrischen Patientinnen und Patienten beschrieben. Neben dem generellen Vorgehen bei Erwachsenen werden auch konkrete Empfehlungen zur Behandlung von geriatrischen Personen gegeben:4,5
- Führen Sie zunächst nicht-pharmakologische Behandlungen durch.
- Wenden Sie eine langfristige Anticholinergika-Behandlung mit Vorsicht an – insbesondere bei Betroffenen mit Risiko für kognitive Dysfunktion.
- Berücksichtigen Sie die gesamte anticholinerge Belastung aller verordneten Medikamente.
- Falls eine zusätzliche anticholinerge Belastung vermieden werden soll, kann zum Beispiel die Gabe von Mirabegron in Erwägung gezogen werden.
Anticholinergika: Vorteilhaft, fragwürdig oder vermeiden – wie unterscheiden?
Für geriatrische Patientinnen und Patienten wird hinsichtlich eines Differential-Risikoprofils der verschiedenen Anticholinergika keine Leitlinien-Empfehlung für eine bestimmte Substanz gegeben. Um trotzdem Medikamente identifizieren zu können, die für ältere Menschen schädlich oder ungeeignet sind, wurde die LUTS-FORTA#-Klassifikation entwickelt.6,7 Basierend auf Evidenzdaten zur Sicherheit, Wirksamkeit und Eignung für ältere Menschen sind sie unterschiedlichen Kategorien zugeordnet (siehe Infobox 1):
# LUTS-FORTA = Lower urinary tract symptoms – Fit fOR The Aged. LUTS-FORTA wurde zur raschen Orientierung in der täglichen Praxis entwickelt, stellt aber keinen Ersatz für individuelle Therapieentscheidungen dar.
Kategorie A – „absolutely“ unverzichtbar: Eindeutig positiver und bei bestehender Indikation gut belegter Nutzen.
Kategorie B – „beneficial“ vorteilhaft: Wirksamkeit bei älteren Patientinnen und Patienten nachgewiesen, aber mit Einschränkungen bezüglich Sicherheit und Wirksamkeit.
Kategorie C – „careful“ fragwürdig: Ungünstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis; Patientinnen und Patienten genau beobachten, um bei Nebenwirkungen direkt reagieren zu können.
Kategorie D – „don’t“ vermeiden: Alternativpräparate einsetzen.
Die FORTA-Klassifikation bietet im Gegensatz zu anderen Listen einen Ansatz, Medikamente sowohl bezüglich einer Positivbewertung als auch einer Negativbewertung samt Zwischenstufen einzuteilen.6,7 FORTA wurde zur raschen Orientierung in der täglichen Praxis entwickelt, stellt jedoch keinen Ersatz für individuelle Therapieentscheidungen dar.

Fesoterodin ist neben Solifenacin* das einzige Anticholinergikum, das es in die Kategorie B („beneficial“, nützlich) geschafft hat und damit auch für ältere Menschen (> 65) als vorteilhaft eingestuft wird (siehe Infobox 2).5,7,8
Die meisten anderen Anticholinergika sind dagegen als fraglich eingestuft.5
* Nicht mit in die Aktualisierung der Leitlinie aufgenommen wurde das Update der FORTA-Klassifikation im Jahr 2018, in dessen Rahmen auch Solifenacin der Kategorie B zugeordnet wurde.

Abb. 1: Die Einordnung der einzelnen Wirkstoffe laut dem FORTA-System. Modifiziert nach 7.
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QUELLEN:
1 Wolff GF et al. Overactive bladder in the vulnerable elderly. Res Rep Urol. 2014; 6: 131–138.
2 Becher KF. Harninkontinenz im Alter: Für jede Form die passende Therapie. M 37 MW Fortschritte der Medizin 2019. 2/161.
3 Lee DM et al. Urinary incontinence and sexual health in a population sample of older people. BJU Int 2018;122(2):300–308.
4 Becher K et al. S2k-Leitlinie Harninkontinenz bei geriatrischen Patienten – Diagnostik und Therapie. Stand 2024. AWMF-Reg.-Nr. 084-001, unter: register.awmf.org/de/leitlinien/detail/084-001 (abgerufen am 05.05.2024).
5 Harding CK et al. EAU Guidelines on Management of Non-Neurogenic Female Lower Urinary Tract Symptoms. European Association of Urology, 2024. Unter: uroweb.org/guidelines/non-neurogenic-female-luts (abgerufen am 23.04.2024).
6 Oelke M et al. Appropriateness of oral drugs for long-term treatment of lower urinary tract symptoms in older persons: results of a systematic literature review and international consensus validation process (LUTS-FORTA 2014). Age Ageing 2015;44:745–55.
7 Pazan F et al. Die FORTA-Liste “Fit forThe Aged“ Expert Consensus Validation 2018. Unter: www.umm.uni-heidelberg.de/klinische-pharmakologie/forschung/forta-projekt/ (abgerufen am 23.04.2024).
8 DuBeau CE et al. Effect of Fesoterodine in Vulnerable Elderly Subjects with Urgency Incontinence: A Double-Blind, Placebo Controlled Trial. J Urol. 2014;191(2):395–404.
9 Neueinführung Tovedeso. Gelbe Liste, 13.04.2018, www.gelbe-liste.de/neue-medikamente/tovedeso-neueinfuehrung (abgerufen am 05.05.2024).
10 Fachinformation Tovedeso® 3,5 mg/7 mg Retardtabletten, Stand 2024.
11 Game X et al. Fesoterodine: Pharmacological properties and clinical implications. European Journal of Pharmacology, 2018;833:155–157.
12 Fachinformation Kentera® 3,9 mg / 24 Stunden transdermales Pflaster, Stand Mai 2023.