Gendermedizin – Hype oder Realität?

Frauen können nicht einparken und Männer finden die Butter im Kühlschrank nicht. Es gibt zahlreiche Klischees bezüglich der Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Auch abseits dieser Stereotypen gibt es objektive, biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Dennoch wurden beide Geschlechter lange Zeit medizinisch gleichbehandelt. Erst in den 1980er Jahren begannen Forscher zu erkennen, dass Männer und Frauen unterschiedlich krank sind und anders auf Therapie ansprechen können [1].

Trotz diverser Studien und vieler Erkenntnisse ist es über 30 Jahre später noch immer nicht gelungen, die klinische Relevanz systematisch zu erfassen und Leitlinien zu erstellen, die Klarheit und Orientierung geben [2].

Im Folgenden fassen wir Fakten zu Unterschieden bezüglich Erkrankung, Versorgungsqualität, Pharmakokinetik und Pharmakodynamik zusammen. Außerdem geben wir Ihnen einen kurzen Ausblick über die Entwicklung der Gendermedizin.


Frauen und Männer sind unterschiedlich krank

Klinisch relevante Unterschiede hinsichtlich Häufigkeit, Ausprägung und Verlauf von Erkrankungen existieren in verschiedenen medizinischen Teilbereichen [1]. Besonders gut untersucht, wenn auch noch nicht vollständig verstanden, sind Divergenzen im Bereich kardiovaskulärer, immunologischer und psychischer Erkrankungen.
Die Ursachen dieser Unterschiede sind sehr komplex, deshalb ist es für Forscher schwierig, die vielen bereits gesammelten Daten zu einem einheitlichen Bild zusammenzubringen und therapierelevante Handlungsempfehlungen zu geben. Als gesichert gilt jedoch, dass neben physiologischen auch psychische sowie psychosoziale Aspekte eine wichtige Rolle spielen [1]


Typ-2-Diabetikerinnen erleiden öfter einen Myocardinfarkt als männliche Patienten

Ein gut dokumentiertes und untersuchtes Phänomen ist das erhöhte Myocardinfarkt-Risiko von Diabetes Typ-2-Diabetikerinnen, das deutlich und damit klinischer relevant höher als das der männlichen Erkrankten ist. Hier spielen alle 3 erwähnten Faktoren zusammen:

  • Bei Frauen ist das metabolische Syndrom stärker ausgeprägt und gleichzeitig oft nur unzureichend therapiert [2, 1].
  • Frauen zeigen höhere postprandiale Blutzuckerwerte, was die Blutgefäße besonders stark schädigt [1].
  • Abdominales Fettgewebe von Frauen ist stärker proinflammatorisch aktiv, was den Krankheitsverlauf beschleunigt und verstärkt [1].
  • Die Prävalenz von Essstörungen ist bei Frauen höher [1].
  • Frauen erkranken häufiger an Depressionen, evtl. auch hervorgerufen durch gesellschaftlichen Druck auf Grund des häufig starken Übergewichts von Diabetes-Typ-2-Patientinnen. Depressionen haben einen nachweislich negativen Effekt auf die Therapietreue [1].

Typ-2-Diabetikerinnen sind hinsichtlich Myocard-Prophylaxe unterversorgt

Auf Grund dieser Tatsachen müsste die kardiovaskuläre Prävention von Typ-2-Diabetikerinnen besonders im Fokus stehen, allerdings ist das Gegenteil der Fall, wie Studien zeigen: Sie erhalten seltener Antihypertensiva und Cholesterinsenker sowie Thromobozytenaggregationshemmer nach Myocardinfarkt. Außerdem bekommen sie auch seltener einen Bypass gelegt als die männlichen Patienten [1]. Auch bei der Diagnostik sind die Frauen benachteiligt: Während bei Männern ein verengtes Herzkranzgefäß im Schnitt nach neun Monaten diagnostiziert wird, sind es bei Frauen durchschnittlich 72 Monate [1]


Geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Diagnostik des Myocardinfarkts

Die genauen Gründe für diese Ungleichbehandlung sind nicht bekannt. Möglich ist jedoch, dass den Frauen der Mythos, sie wären kardial weniger anfällig als Männer, noch heute zum Verhängnis wird. Einen relevanten Anteil haben wahrscheinlich auch die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Diagnostik des Myocardinfarkts, die diesen verschleiern können. So können Ruhe- und Belastungs-EKG eine geringere Aussagekraft haben. Außerdem fehlen bei ca. 30 % der Frauen typische Leitsymptome eines Myocardinfarkts wie Brustenge und Vernichtungsschmerz vollständig. Der Myocardinfarkt kann sich bei Frauen durch unspezifische Symptome wie Müdigkeit, Unwohlsein, Übelkeit, Oberbauchschmerzen oder Rücken- und Nackenschmerzen zeigen. Die unterschiedlichen Merkmale entstehen, weil sich beim männlichen Herzinfarkt die linke Herzkammer erweitert und das Herz nicht mehr stark genug arbeiten kann, während sich bei Frauen der Herzmuskel verdickt, was die Entspannungsphase des Herzens beeinträchtigt [3]. Auf Grund der stark abweichenden Symptomatik hat sich auch der Begriff „Eva-Infarkt" eingebürgert [1, 2]. Bei vielen Patientinnen bleibt ein Herzinfarkt deshalb lange Zeit undiagnostiziert, da die Betroffenen selbst nichts vom Infarkt wissen. Gefährdete Frauen sollten unbedingt über die NAN-Regel informiert werden (siehe Kasten).



NAN-Regel

Treten im Bereich zwischen Nasenspitze, Arm und Nabel plötzliche unerklärliche Schmerzen oder Symptome auf, die nicht innerhalb von 15 Minuten
verschwinden, sollte ein Arzt kontaktiert werden.

 



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